„Wir sind begeisterte Gasteltern“
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- Kategorie: Region Aktiv
- Veröffentlicht: Samstag, 18. Juni 2016 00:24
Kreis Holzminden (r). Sadek sitzt sympathisch schmunzelnd inmitten seiner Gastfamilie, die ihn vor einem halben Jahr, vermittelt durch den Pflegekinderdienst des Landkreises Holzminden, als sogenannten „unbegleiteten minderjährigen Ausländer“ bei sich aufgenommen hat. Es war und ist ein Abenteuer für alle Beteiligten. Wie es Sadek und der Familie dabei ergangen ist.
Zwei Mitarbeiterinnen des Pflegekinderdienstes möchten von Sadek und der Familie wissen, wie sie den Weg bis hierhin erlebt haben. Aus der Motivation heraus, inmitten der Flüchtlingskrise Unterstützung leisten zu wollen, war das Ehepaar Farries aus Ottenstein mit ihrem 17Jährigen Sohn Joost nach einem Aufruf in der Tageszeitung zur Infoveranstaltung des Landkreises Holzminden gekommen. Zunächst hätten sie die Absicht gehabt, eine Frau mit einem Kleinkind aufnehmen zu wollen. Schnell sei aber klar geworden, dass es vorwiegend männliche unbegleitete Heranwachsende sind, die der Unterstützung durch das Jugendhilfesystem bedürfen. Die Integration in eine Gastfamilie stellt dabei eine der Möglichkeiten dar.
Torsten Farries möchte sich richtig verstanden wissen: Skeptisch seien sie nicht gewesen, wohl aber durchaus kritisch und mit vielen Fragen ausgestattet. „Was kommt auf uns zu?“ Ist ein muslimischer Junge bereit, sich von Frauen etwas sagen zu lassen? Was ist, wenn der Jugendliche nach wenigen Tagen einfach wieder aus der Familie verschwindet, um weiterzuziehen? Zudem begegneten der Familie anfangs zahlreiche Vorbehalte, ja sogar Vorurteile aus dem Freundes- und Bekanntenkreis. Für die Gasteltern war von vornherein klar, dass sie einem jungen Flüchtling offen und tolerant gegenüber treten. Gleichzeitig machten sie bereits vor der Aufnahme deutlich, wie wichtig ihnen im Gegenzug dessen Akzeptanz bestimmter eigener Wertvorstellungen ist. Sie rückten letztlich auch nach reiflicher Überlegung von ihrem Vorhaben zur Aufnahme eines Flüchtlings in die eigene Familie nicht ab.
Sadek ist 17 Jahre alt und stammt aus Afghanistan, wo er seine Eltern sowie eine 14Jährige Schwester und einen 9Jährigen Bruder zurücklassen musste. Seit Kurzem beginnt er, detaillierter über seine Flucht zu sprechen. Zunächst sei die Familie gemeinsam in den Iran geflüchtet. Dort kamen sein Vater und er für einige Tage ins Gefängnis, da sie keine Pässe besaßen, bevor die Beiden dann getrennt von Mutter und Geschwistern zurück nach Afghanistan deportiert wurden. Obwohl seine Mutter dagegen war, traf Sadek für sich daraufhin die Entscheidung, allein nach Europa aufzubrechen. Er fand einen Schleuser, der ihm eine für afghanische Verhältnisse beträchtliche Summe Geld vorgestreckt und ihn an die Grenze zur Türkei gebracht hat. Seine Eltern seien nun gefordert, die Summe aufzubringen, was für sie eine große belastende Hürde darstellt. Hierin mag sich auch begründen, warum insbesondere Sadeks Vater der Flucht und dem derzeitigen Aufenthaltsort seines Sohnes nicht vorbehaltlos begegnet. Dennoch hält Sadek über sein Smartphone regelmäßig Kontakt zu seiner Familie. Sadeks vielfältige schöne Erfahrungen in seiner Gastfamilie werden verständlicherweise auch von Heimweh begleitet. Sehr gerne würde er seine Familie wiedersehen, aber nach Afghanistan zurückkehren möchte er nicht.
Angesprochen auf seine Erinnerung an die ersten Momente in der Gastfamilie erzählt Sadek in einem mittlerweile beeindruckend verständlichen Deutsch, er habe sich sehr bewusst gemacht, dass er nun in Deutschland sei und daher ab sofort deutsche Regeln gelten. Zwar sei ihm vieles völlig unbekannt gewesen, aber er habe sich schnell und ohne größere Probleme anpassen können. So sei es beispielsweise für ihn mittlerweile selbstverständlich, Frauen die Hand zu geben und Anweisungen von Frauen anzunehmen, wenngleich er dies so nicht kannte. Sadek ist muslimischen Glaubens. Dementsprechend isst er kein Schweinefleisch und meidet Alkohol. Die damit verbundenen Einschränkungen stellen laut der Gastfamilie aber keine besondere Erschwernis im Alltag dar. Man finde diesbezüglich unkomplizierte Kompromisse, ergänzt Karin Farries. Sadek würde wohl ganz gerne bei passender Gelegenheit eine persische Moschee besuchen. Er interessiert sich aber auch für Kirchen und lässt sich von der Familie die Symboliken des Christentums erklären. Die anfänglich großen sprachlichen Hürden hat die Familie mit Sadek ideenreich zu überwinden versucht, indem sie beispielsweise „Post its“ an viele der Haushalts- und Einrichtungsgegenstände geklebt haben, sodass Sadek sich diese leichter einprägen konnte. Neben dem täglichen zweistündigen Sprachunterricht an der Berufsbildenden Schule in Holzminden vertieft Sadek seine Sprachkenntnisse außerdem noch zwei Mal in der Woche nachmittags zusammen mit einer pensionierten Grundschullehrerin im Ort. Die Gasteltern erwarten von Sadek, ebenso wie von ihren eigenen Kindern, das Einhalten von bestimmten Regeln, Sitten und Gebräuchen. In den wenigen Situationen, in denen Sadek hiervon abgewichen ist, zeigte er sich im Nachhinein einsichtig und lernwillig, sind sich die Gasteltern einig.
Sadek hat die Herzen sämtlicher Familienmitglieder, zu der auch die bereits ausgezogene Tochter Jahne gehört, längst erobert. Und auch in beiden Großelternfamilien sowie bei vielen Dorfbewohnern ist Sadek ein überaus gern gesehener Gast, der mit seiner gewinnenden, offenen Art zur Bereicherung beiträgt. Ortsansässige Handwerker bieten Sadek mittlerweile sogar Praktika mit Aussicht auf einen Ausbildungsplatz an. Kürzlich erlebte Sadek zum ersten Mal das Ottensteiner „Rapsblütenfest“. Die ausgelassene Stimmung und Fröhlichkeit der Dorfgemeinschaft hat ihn beeindruckt und sogar zum Tanzen ermutigt. In seiner Freizeit ist Sadek ein bewegungsfreudiger und begeisterter Fußballspieler und Stammspieler in der Ottensteiner Jugendmannschaft. Er lernt Schwimmen, trainiert zusammen mit Torsten Farries und Joost Bogenschießen und freut sich auf die Wochenenden mit der Ottensteiner Landjugend. Mit leuchtenden Augen erzählt Sadek von seinem bisher „besten Tag“ in Deutschland: Beim Schulfußballturnier mit der afghanischen Mannschaft konnten sie den Wettbewerb für sich entscheiden. Danach erlebte er noch einen Helikopter Flug über Bodenwerder. Das fand Sadek „super“. In diesem Zusammenhang ergänzt sein Gastvater, dass Sadek auch sie als Familie positiv beeinflusse. So fänden sie sich beispielsweise mitunter regelmäßig bei Heim- und Auswärtsspielen auf dem Sportplatz wieder, was vorher nicht zu ihren Gewohnheiten gehört habe. Sadek ist Fan von Fußballstar Ronaldo. Ähnlich wie Torsten Farries freut er sich auf den Beginn der Fußball-EM, die er dann im Fernsehen verfolgen möchte.
Die Gasteltern berichten, dass Sadek über eine ausgeprägte soziale Kompetenz verfügt, die an vielen Stellen sichtbar werde. Aktuell macht er ein mehrwöchiges Praktikum im ortsansässigen Kindergarten. Nachdem ihm dieser Arbeitsbereich zunächst ungewöhnlich für einen Mann erschien und er das Praktikum gegenüber seinen Freunden erst nicht erwähnen mochte, hat er inzwischen festgestellt, dass es ihm Freude macht, sich mit den Kindern zu beschäftigen. Motiviert durch die positiven Reaktionen der Kinder ist er mittlerweile stolz auf seine Tätigkeit. Die Begeisterung der Gasteltern für ihr Pflegekind ist deutlich spürbar. Ihr eigener Sohn wird in diesem Zuge gefragt, ob er deswegen womöglich Eifersucht verspürt. Joost, der ein entspanntes Verhältnis zu Sadek hat, erwidert leicht augenzwinkernd, dass es ja auch Vorteile für ihn habe, wenn die Eltern mitunter etwas abgelenkt seien. Die ehemaligen Mahner aus dem familiären Umfeld hätten inzwischen eingeräumt, in ihren Vorurteilen nicht bestätigt worden zu sein. Sie würden es teilweise damit erklären, dass die Familie mit dem jungen Mann „Glück gehabt“ habe. Familie Farries sieht dies ein wenig differenzierter: Zum einen habe der Pflegekinderdienst offensichtlich gut darauf geachtet, dass der ‘UMA‘ und Gastfamilie zueinander passen und zum anderen habe die Familie mit Sadek zusammen aktiv an dem Erfolg gearbeitet.
Diese Geschichte kann sicher nicht für alle derzeit bestehenden Pflegeverhältnisse im Rahmen des Gastelternprojekts mit ‘UMA‘ gelten. Zu vielschichtig sind die einzelnen biografischen Hintergründe, die unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mitbringen und die sich bietenden Rahmenbedingungen. Sie ist aber ein ermutigendes Beispiel, wie mit beiderseitigem Willen und Toleranz Integration durchaus gelingen kann.
Der Pflegekinderdienst des Landkreises Holzminden sucht Sie!
Sie möchten sich ebenfalls als Gastfamilie für unbegleitete minderjährige Jugendliche engagieren?
Dann kommen Sie zu unserer Informationsveranstaltung am Donnerstag, 23.06.2016 um 18.00 Uhr in die Mehrzweckhalle Boffzen, Mühlengrube 12b!
Sie erreichen uns auch unter der Telefonummer 05531/707-350
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Foto: Landkreis