Zwischen Sinnkrisen und Optimismus: Wer ist Martin P.? Weitere Details zu Täter und seiner schrecklichen Tat im Mordprozess Hafen
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- Kategorie: Region Aktiv
- Veröffentlicht: Mittwoch, 11. Mai 2016 21:06
Hildesheim/Holzminden (kp). Der Prozessauftakt im Mordfall Katrin H. hat aufgerüttelt, die Redaktion berichtete bereits an dieser Stelle. Während Martin P. vor der Ersten Strafkammer des Landgerichtes in Hildesheim gestand, gab es Einblicke in das Leben des Täters und in weitere Einzelheiten der Tatnacht. Die Redaktion hat die Eindrücke hier noch einmal zusammengefasst.
Mit 13 Jahren schon Alkohol und Drogen: Wer ist Martin P.?
Martin ist 31 Jahre alt und wurde in Stade geboren. Er hat drei ältere Geschwister, eine Schwester und zwei Brüder. Als Martin zwei Jahre alt war, trennten sich seine Eltern. Er und seine Geschwister blieben dann beim alkoholkranken Vater, der sie immer wieder übel zugerichtet hatte. Martin P. gesteht während des Prozesses: „Die Situation ist regelmäßig eskaliert, ja!“ Zu seiner Mutter bestand seit der Trennung kein Kontakt. Erst als das Jugendamt einschreiten musste, konnte Martin seine Mutter mit rund neun Jahren bewusst wahrnehmen. Die beiden Geschwister mussten in einer Pflegefamilie bleiben. Martin P. und sein älterer Bruder hingegen lebten bei der Mutter auf einer Art Campingplatz. Martin P.: „Das stimmt. Da waren wir in einem Kanuverein tätig. Meine Mutter hatte einen neuen Lebensgefährten. Ich bin zwischenmenschlich immer wieder mit meinen Eltern aneinandergeraten. Dann hatten wir uns auch mit dem Kanuverein zerstritten.“
1992 besuchte Martin die Grundschule in Stade. Er war dort ein Außenseiter und wurde nach eigenen Aussagen regelmäßig von seinen Mitschülern verprügelt. Da auch die Schulleistungen sehr schlecht waren, musste er die dritte Klasse wiederholen. 1996 besuchte er schließlich die Gesamtschule in Mühlheim an der Ruhr und fing langsam an, sich zu engagieren, sodass er von 2001 bis 2002 sogar zum Gruppenleiter des Schulsanitätsdienstes aufgestiegen war. Doch plötzlich warf Martin kurz vor Schulende alles hin und verschwand. Vorübergehend zog er in eine Notunterkunft für Jugendliche in Mühlheim.
Das Gericht: „2002 hatten sie dann eine eigene Wohnung, die vom Jugendamt finanziert wurde. Dann fingen Drogen und Alkohol an, eine große Rolle in ihrem Leben zu spielen, richtig?“ Martin P. stimmt zu.
Er war sich zwar nicht sicher, dennoch schien der Schulwechsel 1998 aber eine große Rolle in seinem Leben gespielt zu haben. Damals war er dreizehn Jahre alt, als er nach eigenen Angaben schon in Kontakt mit Alkohol und Drogen geraten sei. Vielleicht aber auch schon mit elf Jahren, denn im Verlauf des Prozesses sollte sich herausstellen, dass Martin sich an viele Daten nicht mehr richtig erinnern konnte. Martins Lebensstil ließ ihn stets unzuverlässiger und motivationsloser werden. Irgendwie bekam er seinen Hauptschulabschluss „geschenkt“, wie sich der vorsitzende Richter während seiner Befragung auszudrücken pflegte. Dennoch fand er keinen Ausbildungsplatz und verlor auch seine Stelle beim Deutschen Roten Kreuz sowie die finanziellen Mittel des Jugendamtes, weil er immer wieder die Regeln missachtete. „Alle Existenzen, die ich mir in meinem Leben aufgebaut hatte, habe ich kurze Zeit wieder eingerissen. Seitdem ich denken kann, bin ich depressiv. Immer mal wieder zwischen Sinnkrise und Optimismus“, gesteht der Angeklagte.
Nach der großen Liebe folgt der Absturz und sogar ein Suizidversuch
2005 wurde Martin obdachlos. Ein Jahr später lernt er seine große Liebe kennen, die ihm wieder auf die Beine hilft. Er bekommt neuen Antrieb und kämpft sich aus der Obdachlosigkeit. Dann ein weiterer Rückschlag. 2006 war er für drei Monate im Gefängnis, stellte der Richter fest. „Ja, ich hatte kein Geld, um meine Schulden zu bezahlen. Ersatzweise musste ich dafür eine Haftstrafe antreten.“ Bis Herbst 2007 nahm Martin einen Ein-Euro-Job im Grünflächenamt an. Dort entwickelte er seine Freude an der Gärtnerei. Der Drogen- und Alkoholkonsum spielte aber weiterhin eine große Rolle in seinem Leben. „Ich habe teilweise zwei Flaschen Vodka, wahlweise Korn pro Tag getrunken“, gibt er im Prozess zu. Dann der große Tiefpunkt: Im März 2008 verlässt ihn seine Freundin, anschließend kommt es zu einem Suizidversuch. Der Richter: „Sie haben sich mit einem Skalpell beide Unterarme aufgeschnitten. Ein Nachbar hatte sie rechtzeitig gesehen…“
In der Zwischenzeit durchlebte Martin immer wieder Entgiftungskuren, weitere Klinikaufenthalte und betreutes Wohnen, wo es zu einem weiteren Suizidversuch kam, bis er sich schließlich im „Haus der Zuflucht“ in Bremen wiederfand. Diese kooperieren mit dem „Neuen Land“ in Schorborn, was ihn schließlich auch in den Landkreis Holzminden bringen sollte. 2013 bereits kurzzeitig in Schorborn gewesen, bekam Martin im Sommer 2014 nach einigen Regelbrüchen eine zweite Chance im „Neuen Land“. Anschließend bezog er in Deensen seinen Wohnsitz. Zu diesem Zeitpunkt hatte Martin sowohl in Deensen als auch in Krelingen eine Wohnung. Die Wochenenden verbrachte er in Deensen, unweit vom „Neuen Land“ in Schorborn und von Montag bis Freitag befand er sich in der Regel in Kreling, weil er dort eine Ausbildung im Zierpflanzenbau antrat. Sein Antrittsgeschenk dort war eine qualitativ hochwertige Astveredelungsschere: Sie ist die spätere Mordwaffe, die schließlich bislang nicht mehr aufgetaucht ist. Am 20. Dezember 2015 kurz vor Weihnachten bekommt er Urlaub und macht sich auf den Heimweg nach Deensen.
> Was am 27. Dezember 2015 geschah - Die Tatnacht
Das Gericht zu Beginn des Prozesses: „Bisher stehen noch viele offene Fragen im Raum. Bitte bedenken sie auch, dass der Vater des Opfers anwesend ist. Wir wären sehr interessiert daran, diese Lücken hier und heute zu schließen. Egal, wie schlimm die einzelnen Vorgänge sein mögen, es ist an der Zeit, alles zu erzählen. Wissenslücken können auch vorgeschoben sein“. Die Zuschauer wirkten sichtlich bedrückt von dem Fall, der sich ihnen hier im Gerichtssaal des Landgerichtes in Hildesheim offenbaren sollte.
„Am 27. Dezember 2015 hatte ich seit einer Woche das erste Mal wieder etwas getrunken. Ich fuhr zur Tankstelle, um zwei kleine Flaschen Jägermeister zu holen. Dann bin ich wieder nach Hause. Als ich Zuhause war wollte ich mehr trinken. Also wollte ich mit dem Fahrrad nach Holzminden fahren“, so der Angeklagte. Zu dieser Zeit war es bereits 23 Uhr. „Sie wollten so spät noch mit dem Fahrrad nach Holzminden fahren? Von ihrer Wohnung bis in die Innenstadt sind es ungefähr zwölf Kilometer. Da ist man doch bestimmt eine Stunde unterwegs“, verwunderte dies den Richter. Martin antwortete, dass er starken Drang verspürt habe, seine Wohnung verlassen zu müssen. Zudem fuhr er sehr gerne mit dem Fahrrad umher. Der Weg von Deensen nach Holzminden würde im Grunde stets bergab verlaufen, sodass er schon in 40 Minuten sein Ziel erreichen könnte. Eigentlich hatte er nur vorgehabt, an der Tankstelle in der Allersheimer Straße weiteren Alkohol zu kaufen und dann zurückzufahren. Ungefähr gegen kurz vor zwölf muss er diese Tankstelle auch erreicht haben, allerdings war sie dann bereits geschlossen. „Dann bin ich weiter in die Innenstadt gefahren, als mich zwei Polizisten angehalten hatten. Ich hatte während des Fahrradfahrens Kopfhörer im Ohr. Außerdem musste ich pusten. Sie hatten bei mir 0,3 Promille gemessen. Dann bin ich weiter zum Raabeeck gefahren“ - die Gaststätte, in der er sein späteres Opfer kennenlernte.
Martin gab an, gegen 0:10 Uhr das erste Mal im Raabeeck gewesen zu sein. Ursprünglich nur, um dort vier doppelte Korn zu trinken. Anschließend habe er das Lokal zunächst alleine wieder verlassen, um Richtung Heimat aufzubrechen. Nachdem er aber bereits ungefähr einen Kilometer gefahren war, drehte er um und suchte ein zweites Mal das Raabeeck auf, um dort weiterzutrinken. Das Fahrrad befestigte er rechts neben dem Eingang. Dort blieb es bis nach dem Mord.
"Dann ist Katrin auf mich zugekommen..."
Martin trank weiteren Alkohol und setzte sich rechts an den Tresen. „Dann ist Katrin auf mich zugekommen“, erinnert er sich. Mit dem Eintritt Katrins treten in Martins Aussagen immer wieder große Erinnerungslücken auf. Dem Wunsch des vorsitzenden Richters, diese von ihm bezeichneten Wissenslücken zu schließen, konnte der Angeklagte bis zum Ende des ersten Prozesstages allerdings nicht nachkommen. „Ich war zu diesem Zeitpunkt seit acht Jahren Single. Ich hatte nicht das geringste Bedürfnis, mich nach einer Beziehung umzusehen. Katrin hatte das Gespräch zu mir gesucht und ich hatte nicht abgeblockt“ Im Verlauf dieses Gesprächs soll weiterhin reichlich Alkohol geflossen sein. Das Gericht: „Können sie sich daran erinnern, dass sie im Verlauf dieses Aufenthalts im Raabeeck das erste Mal ihre Astschere hervorgeholt und damit eine gewisse Andeutung in Richtung des späteren Opfers getan haben, wie Zeugen ausgesagt haben?“ Martin P.: „Nein, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich würde es aber auch nicht ausschließen.“
Martin hatte auf Nachfrage des Gerichts zwar keine besonderen Erwartungen an den weiteren Verlauf der Nacht gehabt, wäre allerdings für alles offen gewesen: „Katrin war eine ganz ganz liebe Frau!“, gesteht er. Mit Ladenschluss gegen 2 Uhr verließen auch die beiden das Lokal. Beide entschlossen sich, anschließend noch ins „Le Piano“ zu gehen, angeblich Katrins Idee. Dort könne der Gast auch anschreiben lassen. Katrin soll sich bei Martin eingehakt haben – dass sie nur noch wenige Stunden am Leben sein wird, konnte sie nicht ahnen. Unterwegs wurden sie auch von Zeugen gesehen - sie sollen sich angeregt unterhalten haben. Mit dem Eintritt ins „Le Piano“ setzen die Erinnerungen von Martin dann aber fast endgültig aus. „Ich erinnere mich, dass wir einen Tequila getrunken hatten. Und alles, was nach dem Le Piano kam, fehlt mir komplett“.
> Kein Motiv für die Tat am Hafenbecken
Bei den späteren Polizeiermittlungen stellte sich heraus, dass bei Verlassen der Kneipe ein Schulden-Bierdeckel von 25 Euro hinterlassen wurde. Liegt hier möglicherweise Konfliktpotential? Martin sagte aus, dass er sein für diesen Abend eingeplantes Geld komplett ausgegeben hatte. Zudem wurde er angeblich im Raabeeck vor Katrin gewarnt, sie würde sich stets von Leuten einladen lassen. Martin lebte zudem von Sozialhilfe und hätte für den Rest der Woche kaum noch Geld gehabt. Doch der Angeklagte kann sich auch unter diesen Hinweisen an nichts mehr erinnern. Weder an einen Streit, noch den anschließenden Spaziergang zum Hafenhäuschen, auch nicht an die Schläge. Ist es eine kühle Taktik oder hat der offensichtlich hohe Alkoholkonsum tatsächlich zu so starken Wissenslücken führen können? An das Würgen will sich Martin P. noch erinnern können, war dann davon ausgegangen, dass Katrin bereits tot sei. Das Gericht: „Wenn sie sich sicher waren, dass sie bereits tot war, warum haben sie dann zugestochen?“ Martin P.: „Ich habe es getan, um eine Reanimation unmöglich zu machen“ Das Gericht: „Wollten sie also, dass sie bereits durch das Würgen stirbt?“ Martin P.: „Ja“
Die Aussagen, die Martin vor Gericht und in den Ermittlungen zuvor vor den Polizeibeamten von sich gab, unterscheiden sich teilweise sehr. Erheblichen Erinnerungslücken und der Druck der Polizeibefragung sowie die Angst, nicht alle abscheulichen Ereignisse, die in dieser Nacht geschehen sind, auszusprechen, sollen Grund dafür sein. Lassen die Polizeidokumente den Schluss auf ein Mordmotiv zu, so scheinen die heutigen Aussagen den Versuch unternehmen zu wollen, die Geschehnisse in Richtung Totschlag zu lenken. Der nächste Verhandlungstag ist am 27. Mai um 9 Uhr im Landgericht Hildesheim. Der Ausgang offen.
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Fotos: kp, red