„Sie sind jetzt unsere neuen Nachbarn“: Interview mit junger Flüchtlings-Familie – waghalsige Bootsüberfahrt im Mittelmeer
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- Kategorie: Region Aktiv
- Veröffentlicht: Samstag, 15. August 2015 13:17
Mittlerweile sind alleine dieses Jahr 337 Flüchtlinge im Kreis Holzminden angekommen und wurden vielerorts untergebracht. Sie alle haben auf ihrer Reise bis nach Deutschland viel durchgemacht und sehnen sich nur nach einem: Einer Zukunft in Sicherheit und Frieden. Doch wo die einen ihre Gastfreundschaft anbieten und helfende Hände ausstrecken, sehen andere Probleme. Die Landkreise und Kommunen stehen vor der Herausforderung, meist erst kurzfristig von Zuweisungen Bescheid zu bekommen und dann eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen aufnehmen zu müssen. Und die brauchen ein Bett, Essen und nicht selten auch eine medizinische Versorgung. Allein dies war auch Grund für den Landkreis, das in Eschershausen neu eingerichtete Zentrum für Migration früher als geplant zu eröffnen, die Weser-Ith News berichteten. Das Gebäude soll fortan zentrale Anlaufstelle für Flüchtlinge im Kreis Holzminden sein. Dass man den Menschen mit allen Mitteln hilft, steht hier außer Frage.
Deutsch-arabische Sprachbarrieren
Allein eine Familie ausfindig zu machen und ihnen von dem Vorhaben zu erklären, ein Interview mit ihnen führen zu wollen, dauerte seine Zeit. Dennoch gelang es der Redaktion, mit Paulos (19), Tsige (29), Ria (4) und Hiyab (2), eine junge Familie aus dem afrikanischen Eritrea kennenzulernen. Es gibt nur wenige englische Vokabeln, die die vier Familienmitglieder und ein schon längere Zeit in Deutschland lebender Freund beherrschen. Deutsch ist Mangelware, auf Arabisch könnte man sich hingegen gut verständigen. Zum Glück kannte Tsige, sie ist die Schwester von Paulos, jemanden, der sowohl ihre Sprache als auch gebrochenes Deutsch spricht. Dieser half dann über Telefon, die vorhandenen Sprachbarrieren zu überwinden, damit man sich neben Zeichensprache auch inhaltlich besser verständigen konnte. Um ein Hin- und Herreichen des Telefons kam man nicht umher, dennoch gelang es dadurch, etwas über den Weg der Familie von Eritrea bis in den Landkreis Holzminden zu erfahren. Bereitwillig und fast schon wie selbstverständlich wollten sie zu Beginn des Interviews ihre Ausweise und Pässe vorzeigen, als ob sie sich erst legitimieren müssten. Man ahnt, offenbar haben sie schon den ganzen deutschen Behördendschungel kennengelernt.
Schreckliche 36 Stunden auf hoher See
Die Geschichte der jungen Familie, Paulos ist erst 19, ist vergleichbar mit den Berichten in großen Tageszeitungen - und den beängstigenden Bildern im Fernsehen. Eines Tages wurden sie ins Auto gesetzt, fuhren von Eritrea rüber in den benachbarten Sudan, von wo aus es dann mit einem anderen Auto weiter nach Libyen ging. Nach vielen weiteren Tagen an der afrikanischen Mittelmeerküste angekommen folgte der wohl waghalsigste Akt ihrer Reise. Auf einem kleinen Boot mit insgesamt nicht weniger als 350 anderen Flüchtlingen begann die gefährliche Überfahrt nach Europa. Jeder von ihnen wusste, wenn sie dort ankommen, hätten sie es geschafft. Wenn… Denn, so erzählt Paulos mit ernster Miene, waren es schreckliche 36 Stunden, in denen alle zusammengekauert die Bootsüberfahrt überstehen mussten. Ständig in Angst, dass sie es nicht überleben würden. Ihm war schlecht und er wollte sich übergeben. Es gab nicht genügend Wasser und nichts zu essen – wie mag wohl die Überfahrt von den kleinen Kindern empfunden worden sein? Denn auch sie waren an Bord, völlig unwissend, was sie erwarten würde. Auf nur knapp einem Drittel Quadratmeter, so zeigt es Paulos in Mimik und Gestik während des Interviews an, mussten sie ausharren. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam das Boot dann „irgendwann“ in Italien an – die meisten von ihnen haben die gefährliche Überfahrt offenbar ohne große Blessuren überstanden. Die seelischen Eindrücke aber, die hat jeder mitgenommen und behalten.
Ankunft in einem neuen Zuhause
Der weitere Werdegang dann ist aus den Medien wohlbekannt. Die Ankömmlinge werden untersucht, fast wie Einfuhrwaren nummeriert und aufgeteilt. Von den politischen und diplomatischen Problemen in Europa, dass niemand wirklich so recht weiß, wohin mit den Flüchtlingen, bekommen sie nichts mit. In Europa angekommen wittern sie den Beginn eines neuen, besseren Lebens. Mit einem Zug schließlich gelangt Paulos mit seiner Familie dann nach Deutschland. Hier werden sie auch erst einmal alle medizinisch durchgecheckt. Deutschland selbst sei offenbar ihr Ziel gewesen, sagt er im Gespräch. Zum Glück gelang es der jungen Familie, dass alle zusammen bleiben konnten. Später, nach einigem Warten und vielen behördlichen Angelegenheiten, traten sie ihren letzten Weg in den Landkreis Holzminden an. Jetzt langsam kehrt allmählich Ruhe ein. Die Familie teilt sich eine gut 50 Quadratmeter große Wohnung und wurde, wie die vielen anderen Flüchtlinge auch, mit einer ersten Ausstattung an Lebensmitteln, Möbeln und Kleidung ausgestattet. In Deutschland, so erzählt die Familie auf direkte Nachfrage, seien sie gut aufgenommen und freundlich empfangen worden. Sie haben sich wirklich sehr angestrengt, diese Aussage glaubhaft rüber zu bringen. Trotzdem kann man in ihren Gesichtern und besonders in ihren Augen noch immer die Strapazen ihrer Reise erkennen, daneben ein Stück weit Ungewissheit, wie es in Deutschland nun weitergehen wird. Nicht zu vergessen dabei auch eine große Portion Sehnsucht, denn noch immer sind viele ihrer Freunde und vor allem Familienmitglieder von ihnen weit weg. Allein fünf Schwestern, zwei Brüder, die Mutter und der Ehemann von Tsige sind noch in Afrika. Per Telefon haben sie gelegentlich Kontakt, man fragt, wie es einem geht und wann es wohl ein Wiedersehen geben werde. Ihr Ziel ist es anscheinend, vielleicht schon bald, ebenfalls einen derart waghalsigen Versuch zu unternehmen, nach Europa zu kommen.
Es gibt keinen Weg zurück
Eines steht fest, zurück können sie jetzt nicht mehr. Denn wer aus Eritrea ausreist und in einem anderen Land Asyl beantragt, wird im eigenen Land dafür hart bestraft und wandert ins Gefängnis. Das Land im Nordosten von Afrika liegt in direkter Nachbarschaft zum Sudan, Dschibuti und Äthiopien. Zum letzteren Nachbarstaat gibt es seit vielen Jahren regelmäßige Grenzstreitigkeiten – die Lage ist allgemein gespannt. Bei Amnesty International steht Eritrea bei Menschenrechtsverletzungen übrigens recht weit vorne. Folter, Verhaftungen und willkürliche Tötungen kommen gelegentlich schon mal vor, auch von erzwungenem Verschwindenlassen von Menschen ist die Rede. In einer aktuellen Liste der Pressefreiheitsorganisation „Reporter ohne Grenzen“ rangiert das Land wiederholt auf dem allerletzten Platz, wenn es um die Pressefreiheit in Eritrea geht. Offenbar lässt sich dort niemand gerne etwas vorschreiben. Aus keinem anderen Land Afrikas kommen so viele Flüchtlinge nach Europa wie aus Eritrea, stellte erst im Frühjahr die Süddeutsche Zeitung fest. Sie spricht von UN-Angaben über derzeit fast 360.000 als Flüchtlinge registrierten Eritreern in Europa. Derzeit leben in Eritrea über sechs Millionen Menschen, in 30 Jahren, so Prognosen, soll die Bevölkerung dort bis fast auf das Doppelte angewachsen sein. Damit wachsen natürlich auch die Anforderungen an den Staat – und offenbar auch die übrigen Probleme. Doch es steht nicht nur Eritrea oben auf den Listen der Herkunftsländer, es sind noch viele andere Staaten dabei, darunter beispielsweise Syrien, Irak, Kosovo oder Albanien, aus denen Flüchtlinge im Kreis Holzminden angekommen sind.
Warum genau Paulos und seine Familie von dort geflohen sind, erzählen sie ansatzweise. Anhand der derzeit in Eritrea vorherrschenden Situation dürfte dies aber auch so zweifelsfrei klar sein. Paulos gab seine Hühnerfarm auf, von der er lebte, Tsige arbeitete bis zuletzt in einem Modeladen, die Kinder gehörten in den Kindergarten. Auch ihre Freunde und Familien ließen sie zurück, daneben alles Hab und Gut, persönliche Gegenstände und ihr einstiges Heim.
Unterstützung in Deutschland
Was sie nun hier in Deutschland erfahren, macht sie dafür umso glücklicher. Denn es gibt Hilfe und Unterstützung von Menschen, die das Leid der Flüchtlinge längst erkannt haben. Sie alle wissen, sie würden diese Hilfe auch dringend benötigen, wären sie in derselben Lage. Viele Ehrenamtliche helfen den Flüchtlingen tagtäglich auf ihrem Weg in eine neue Zukunft. Sie bringen ihnen die deutsche Sprache bei, binden sie bei sportlichen und kulturellen Veranstaltungen mit ein und veranstalten Kennenlern-Abende, um einen Kontakt untereinander aufzubauen und das Miteinander zu fördern. Auch untereinander hilft man sich, repariert Gegenstände und hilft sich gegenseitig beim Einzug in die neue Bleibe. Neulich bei einem Fußballturnier wurden die jungen Männer spontan sogar zum Mitspielen eingeladen und hatten dabei sichtlich ihren Spaß - Sprachbarrieren spielten dabei eine eher untergeordnete Rolle. Alle Teilnehmer verstanden: Sie sind jetzt unsere neuen Nachbarn.
Fotos: rus