Paralympics Rio 2016: Viel mehr als nur ein Sportspektakel – Eine Nachbetrachtung mit Pastor Christian Bode
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- Kategorie: Region Aktiv
- Veröffentlicht: Dienstag, 24. Januar 2017 13:11
Der Sportpädagoge Prof. Dr. Helmut Altenberger, Mitglied der Deutschen Olympischen Akademie, sowie Sylvia Schenk, ehemalige Olympionike, untersuchten die politische Dimension der Olympischen Spiele. So sei beispielsweise auch bei der Vergabe der Spiele 2008 an Peking von einem politischen Akt auszugehen. Zitiert wird aus einem Positionspapier des Deutschen Olympischen Sportbundes: „Die Vergabe der Olympischen Sommerspiele 2008 an Peking hat das IOC erkennbar auch mit der Hoffnung verbunden, dass sich die Menschenrechtssituation in China im Zuge der unumkehrbaren Öffnung des Landes durch die Ausrichtung der Olympischen Spiele und angesichts des überwältigenden Interesses der Weltöffentlichkeit deutlich verbessern werde.“
Brasilien bekommt die Sommerspiele 2016
Am 2. Oktober 2009 traf das Internationale Olympische Komitee die Entscheidung zur Vergabe der Sommerspiele 2016: Rio de Janeiro hatte sich in der dritten Runde mit 66 zu 32 Stimmen als Austragungsort gegen die Hauptstadt Spaniens durchgesetzt. Damit sollte das weltweit größte Sportereignis erstmals auf südamerikanischem Boden stattfinden.
Brasilien, ein Land mit 200 Millionen Einwohnern und an siebter Stelle der stärksten Wirtschaftsmächte der Welt, blickte fortan auf eine ganze Reihe spektakulärer Ereignisse, die sich in den kommenden Jahren auf dem heimischen Boden abspielen sollten.
Seine erste Auslandsreise trat Papst Franziskus 2013 – im Rahmen des Weltjugendtages – in Brasilien an. Im selben Jahr wurde der Konföderationen-Cup ausgetragen. Ein Jahr später das erste sportliche Großereignis: Die Fifa Weltmeisterschaft 2014. Wiederum ein Jahr später wurde Rio 450 Jahre alt – ebenfalls eine riesige Feier. Doch all diese Veranstaltungen und Ereignisse konnten das bevölkerungsreichste Land Südamerikas nicht vor einer ganzen Reihe schlimmer Krisen bewahren.
Sommerspiele 2016 im Schatten einer schlimmen Staatskrise
Die Olympischen Sommerspiele 2016 in Brasilien schienen nie unter einem guten Stern zu stehen. Könnte der Einlauf der brasilianischen Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin Marina Silva während der Eröffnungsfeier 2012 in London noch als politisches Statement des IOC betrachtet werden (Marina Silva durfte unter anderem die IOC-Flagge tragen), waren hier jedoch zwei der größten Probleme für die brasilianische Regierung hinsichtlich der Austragung 2016 zum Ausdruck gebracht: Wie wird Brasilien das große Schmutzproblem los, um den Umweltansprüchen zu genügen und wie muss oder kann mit so einer Großveranstaltung auf die Umstände und Rechte der Menschen in Brasiliens Elendsvierteln, den „Favela-Gebieten“, hingewiesen werden?
Die Ausbreitung des Zika-Virus, das nicht zufriedenstellende olympische Dorf und die problematische Infrastruktur Brasiliens ließen die unheilbringende Wolke weiter verdunkeln. Zudem schlitterte das Land immer weiter in eine schlimme Staatskrise und in eine der stärksten Rezessionen der vergangenen Jahrzehnte, so dass ein politisches Handeln in Stagnation geraten musste. Noch vor Beginn der Spiele, am 5. August 2016, wurde die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff im Rahmen eines Amtsenthebungsverfahrens suspendiert. Das vermeintliche russische Staatsdoping und Sperren der gesamten russischen Leichtathleten bleibt hier nicht unerwähnt.
Unmittelbare Eindrücke der paralympischen Sommerspiele von Pastor Christian Bode
In diesem Kontext können die durch Pastor Christian Bode vor Ort gewonnenen, unmittelbaren Eindrücke der paralympischen Sommerspiele 2016 in Brasilien betrachtet werden. Christian Bode, Pastor der St. Thomasgemeinde Holzminden, war als einziger Vertreter der „Evangelischen Kirche Deutschland“ als Ansprechpartner und Seelsorger des deutschen Teams in Rio dabei. Seine ersten Paralympics-Erfahrungen sammelte er bereits 2008 in Peking, als er als Trainer der deutschen Tischtennismannschaft an den Paralympics teilnahm.
„Drei Schlagwörter stehen für meine Paralympics-Eindrücke in Rio“
Es sind die dritten paralympischen Sommerspiele, die Christian Bode miterlebt hat – das zweite Mal als Seelsorger. Nach Peking und London haben ihn vor allem die Wettkämpfe in Rio, die vom 7. Bis 18. September ausgetragen wurden, mit tiefgreifenden Eindrücken zurückgelassen: „Drei Schlagwörter stehen für meine Olympia-Eindrücke!“
Begeisterung
Die Begeisterung sei hier als erstes Schlagwort zu nennen. Wahrgenommen hat er sie auf mehreren Ebenen: Es ist zum einen seine eigene Begeisterung, das deutsche Team über so viele Jahre, vom Trainingsprozess bis zu den Wettkämpfen, begleitet zu haben. Zum anderen das Auftreten der 153 deutschen Athleten, die allein durch ihre Körpersprache die Erfüllung eines großen, wahrgewordenen Traumes zu verkünden wussten. „Die Teamleitung hatte ganz bewusst keine Medaillenerwartung ausgesprochen“, erzählt Bode, „die Teilnahme hatte bereits alle zu Gewinnern gemacht, das spürte jeder“. Und auf dieser Grundlage war das deutsche Ergebnis mehr als zufriedenstellend: Das deutsche Team kehrte am Ende mit 18x Gold, 25x Silber und 14x Bronze im Gepäck zurück.
Es war genau diese teaminterne Begeisterung, die anschließend auch auf eine dritte Ebene gehoben werden sollte: „Der Sport ist das eine, aber in Brasilien zu sein und auf das Land und die Situation vor Ort zu schauen, das ist das andere – das ist der sogenannte Blick über den Tellerrand!“ Dabei helfen sollte das Aktionsbündnis „Rio bewegt uns“, ein Zusammenschluss aus mehreren Verbänden und Akteuren weltkirchlichen Handelns, „um auch außerhalb der Stadien für Gewinner zu sorgen“, so das Motto. Gemeint sind hier die Menschen am Rande der Stadt, in den Favelas, den Elendsvierteln, die als Bevölkerungsgruppe regelrecht abgeschnitten vom großen Olympiaereignis zu sein schienen.
Christian Bode, der „Paralympicspfarrer“, wie er auch genannt wird, erzählt uns von Begegnungen der Paralympics-Tischtennismannschaft im Kinderheim „Casa de Esperanza“ in Nova Iguacu. Es waren die beiden von Thomas Schmidtberger und Valentin Baus mitgebrachten Silbermedaillen, die eine ausgelassene Begeisterung unter den Kindern auslöste, denn „jeder wollte und konnte sie anfassen“. Auf diese Weise kam das Sportspektakel auch zu den „vergessenen Kindern Rios“.
Ein weiteres von den Athleten angesteuertes Ziel war das Projekt Straßenkinderbus im Stadtteil Gloria. Den Straßenkinderbus gibt es seit 2013 in Brasiliens Metropole. Alle drei Monate wechselt er seinen Standort und besucht ausschließlich die Armutsviertel in Rio, die verhältnismäßig viele obdachlose Kinder und Jugendliche auf ihren Straßen haben. Der Bus soll den abgehängten Kindern ein Zufluchtsort und Kontakt sein, um zumindest während der Öffnungszeit von 18 bis 22 Uhr am gesellschaftlichen Leben anknüpfen zu können. Der Straßenkinderbus verfügt über Computer und Internetverbindung, über Musikinstrumente, die zum gemeinsamen Musizieren einladen und über eine Tischtennisplatte, die kurzerhand am Straßenrand aufgestellt werden kann. „Wir besuchten den Straßenkinderbus und spielten den ganzen Abend lang mit Kindern und Jugendlichen, die wir dafür begeistern konnten“, erinnert sich Bode.
„Wie gehen wir gegen diese Armut vor, die uns hier unmittelbar anschreit und wie gehen wir damit um, wenn wir am nächsten Tag zur Wettkampfstätte fahren“, will er sich gefragt haben, „ja, es macht etwas mit mir, dass wir hier sind“. Begeisterung. Und Nachdenklichkeit.
Nachdenklichkeit
12 Millionen Arbeitslose. Umsiedlungen von Abgehängten: „Die Favelas wurden offiziell abgeschafft und die Armut ausgeblendet.“ Kein Geld für die Paralympics? „Barrierefreiheit gab es nur ums olympische Dorf“, so Bode.
Es gab viele Ereignisse, die ihn haben nachdenklich werden lassen. Ein Ereignis erlebte er am fünften Tag der Paralympics. „Wir waren auf dem Weg zu unserer Wettkampfstätte“, erinnert er sich, „da gab es diese Behelfsbrücke über der Straße, die vor allem für Rollstuhlfahrer wichtig ist, um zum Stadion zu gelangen. Doch als wir näher kamen sahen wir, dass diese bereits abgebaut wurde“. Kein Interesse an den Paralympics?
Überhaupt seien kaum paralympische Wettkämpfe im brasilianischen Fernsehen übertragen worden. In Deutschland war die Aufmerksamkeit hingegen so groß wie selten zuvor. „Die Herausforderungen für dieses Land sind doch größer“, gibt sich der Paralympicspfarrer nachdenklich, „das Land entwickelt sich in eine ganz andere Richtung“.
Die Erinnerungen an die paralympische Eröffnungsshow beschrieb Christian Bode wie folgt: „Die Eröffnungsshow und die Zeit der Paralmypics standen unter dem Motto “Eine neue Welt“. Zum Ende der Eröffnungsfeier sollte ein Rollstuhlfahrer auf einem vor ihm thronenden Berg das olympische Feuer entfachen. Der Berg war zu hoch. Plötzlich entfaltete der Berg eine Art Treppe, die den Rollstuhlfahrer passieren und das paralympische Feuer entfachen ließ.“ Die Eindrücke, die sich an den darauffolgenden Tagen für den Seelsorger ergeben hatten, sollten jedoch Fragen aufwerfen. Fragen wie: „ Ist das alles nur Show?“ Nachdenklichkeit.
Medienbild
Das Bild der deutschen Medien soll unter dem Schlagwort Medienbild den dritten und letzten Punkt der Nachbetrachtung markieren. Es sei die Vermittlung der deutschen Medien gewesen, die Brasilien zu einem hochkriminellen Land deklariert habe. Dass das olympische Dorf allerdings besser nie hätte verlassen werden sollen kann Christian Bode nicht besttätigen: „Mein durch die Medien verursachter Adlerblick hatte sich schnell gelegt. Nicht jeder Brasilianer ist kriminell, wie es suggeriert wurde.“
Trotz allem waren es für Pastor Christian Bode wieder unvergessliche Tage, an denen auch er immer mal wieder viel Einsatz zeigen musste. Nicht jeder findet die richtigen Worte, wenn Medaillenträume zerplatzen, wenn Verletzungen einen Athleten nach jahrelanger Vorbereitungszeit, auf diesen eine Moment, schon vor Beginn der Wettkämpfe zur Aufgabe zwingen. Vielleicht müssen es aber auch nicht immer die richtigen Worte sein. „Manchmal muss man einfach den Schmerz eines zerplatzten Traums zusammen aushalten“, so Bode. Manchmal frage er aber auch einfach nur, wie es einem so ginge. Zwar sei es nur eine simple Frage, doch reiche sie sehr oft aus, um einen Teil der vielleicht manchmal erdrückenden Anspannung zu nehmen. Erkennen würde er das an der Antwort, die dann folgt: „Danke, dass du fragst wie es mir geht. Es geht mir gut!“
Seit Rio sind einige Monate vergangen. Pastor Christian Bode hat bereits mehrere Vorträge gehalten und von seinen Erfahrungen berichtet. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat indes auf der Vertreterversammlung in Karlsruhe die Weichen für die Fortsetzung der Begleitung der deutschen paralympischen Familie gestellt. So wird Christian Bode mit großer Wahrscheinlichkeit auch im kommenden Jahr die Winterspiele in Südkorea begleiten, die in der Stadt Pyeongchang ausgetragen werden. „Kirche ist mittendrin und nahe den Menschen“, das ist dem Pastor wichtig.
Fotos: Bode/red